Alte Leute — der eine charmant, der andere weniger

Karn Kant
3 min readJan 23, 2024

A. Irgendwo in Italien, vor Jahrzehnten

Meine Italienischlehrerin sprach vor ein paar Wochen von ihrem Grossvater, der vor einem Jahrhundert in Kalabrien gelebt hat.

„Er war Postbote und musste seine Runden auch ausserhalb der Stadt zu Fuss machen“

„Oh“, rief ich mitfühlend.

„Ja. Also fing er an, die Briefe zu öffnen.“

Hat er nach Bargeld gesucht, fragte ich mich leicht schockiert?

Sie fuhr fort: „Er hat die Briefe gelesen, um zu sehen, ob sie wichtig waren. Wenn ja, hat er sie zugestellt. Wenn nicht, hat er sie gelassen. Ich habe immer gesagt: Opa, das kannst du nicht machen! Er lächelte nur. Irgendeine arme, junge Frau muss auf die Antwort ihres Geliebten gewartet haben. Aber nein. Wahrscheinlich nicht wichtig!“

B. Mitten in der Zürcher Altstadt, am 23.01.2024

Eine ältere weibliche Person, deren Wintermantel noch zugeknöpft ist, spricht mich im Untergeschoss der Zentralbibliothek an, als ich zum Ausgang gehe.

“Kommen Sie aus Indien?”, fragt sie auf Englisch — wohlgemerkt eine Fremdsprache.

(Are you from India?)

“Arbeiten Sie bei der Polizei, gnädige Frau?”, erwidere ich, ebenfalls auf Englisch. Mein Ton deutet darauf hin, dass ich nicht besonders erfreut bin. Sie hat einen Korb voller Bücher mit.

(Do you work for the police, Madam?)

“Nein. Aber sind Sie aus Indien?”

(No. But are you from India?)

Ich wiederhole die Gegenfrage.

Sie wiederholt sowohl ihre Antwort als auch ihre Frage.

“Wenn Sie nicht bei der Polizei arbeiten, dann haben Sie kein Recht, Menschen auf der Strasse zu fragen, woher sie kommen”, sage ich.

(If you do not work for the police, then you have no right to ask people on the street where they are from)

“Nein, aber hier ist alles eurozentrisch. Das mag ich überhaupt nicht. Ich habe neun Jahre lang die Geschichte Europas und Indiens studiert. Keiner half mir dabei. Ich mache das ganz allein. Sind Sie aus Indien?”

(No, but everything here is Eurocentric. I do not like that at all. I have been studying the history of Europe and India for nine years. No one is helping me. I am doing it on my own. Are you from India?)

“Gnädige Frau, wenn Sie für die Polizei arbeiten, müssen Sie wohl mir Ihren Ausweis zeigen”

(Madam, if you work for the police, you must show me your identification card)

“Ich arbeite nicht für die Polizei. Aber sind Sie aus Indien?”

(I do not work for the police. But are you from India?)

“Sie sollten für die Polizei arbeiten. Oder bei der Geheimpolizei. Das könnte Ihnen gefallen”, mit diesen Worten verliess ich den Vorsaal.

(You should work for the police. Or the secret police. You might enjoy that)

Draussen in der Januarkälte bedauerte ich, dass ich angesichts ihres widerlichen Verhaltens nicht mehr Gelassenheit gezeigt hatte. Sang froid und eine leichte Verachtung zu zeigen wäre für meinen Stolz doch besser gewesen. Ich hätte sie stattdessen fragen sollen, “Wie alt sind Sie?” oder etwas anderes zutiefst Persönliches.

Ein Versuch

Was tut man mit solchen Anekdoten?

Frida Kahlo hätte womöglich eine gewisse Empathie für den Postboten empfunden, oder?

“Sind Sie Jude?” — Auf diese Frage hätte Heinrich Heine keine einfache Antwort gehabt, darf man annehmen.

Man versucht.

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Karn Kant

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