Amor fati: Ein Gesamtkunstwerk nach Carmen

Karn Kant
6 min readSep 24, 2023

Als ein Zuschauer mitgestalten durfte

24.09.2023 Zürich

Man muss der Staatsoper Stuttgart applaudieren — für das exzellente Gesamtkunstwerk am gestrigen Samstagabend [0].

Auf dem Programm stand Carmen, aber wäre es auch auf der Bühne gewesen dann wäre es nur eine Oper und kein Gesamtkunstwerk. Eventuell reicht in Stuttgart eine Oper nicht — es muss ein Gesamtkunstwerk sein, wie das Triadische Ballett vor fast genau hundert Jahren [1].

Dem Publikum wurde vor der Carmen Vorstellung erzählt, dass das Haus im Jahre 2006 die Carmen Inszenierung ausgebuht hatte. Diesmal ist es nicht passiert, zumindest nicht vor der Pause.

Noch in der Einleitung: Ob man nicht Frauenmord verherrlicht, wenn man Carmen spielt? Es stimmt durchaus, dass eine Frau umgebracht wurde. Auch das Schicksal von Ophelia in «Hamlet» ist vermeidbar — «Schwanen-Gesang in einen nassen Tod» [2]. Und «Schuld und Sühne» fängt sogar mit einem Frauenmord an [3]. Drei (fiktive) Frauen tot — wegen drei (fiktiven) Männer. Es wäre doch eine bessere Welt mit weniger Mérimée, Shakespeare, und Dostojewski, scheint die logische Schlussfolgerung zu sein.

Es gibt sogar einen zweiten Grund, Carmen zu boykottieren: Die Tierquälerei als Volksbelustigung. Anders als der Mord von Señora Carmen wurde der Toréador Escamillo explizit gefeiert. Falls der Dramaturg auch dies in der Einleitung erwähnen würde, könnte er gleich doppelt so viele «Wokeness» Punkte gewinnen.

Wenn man aber noch mehr Wokeness Punkte will, soll man das Zitat von Palladas (Dichter vor circa 1600 Jahren) am Anfang des Mérimée Romans [4] schmunzelnd erwähnen:

“Πᾶσα γυνὴ χόλος ἐστίν· ἔχει δ᾿ ἀγαθὰς δύο ὥρας· τὴν μίαν ἐν θαλάμῳ, τὴν μίαν ἐν θανάτῳ.”

« Toute femme est amère comme le fiel ; mais elle a deux bonnes heures, une au lit, l’autre à sa mort »

„Jede Frau ist wie Galle, doch hat sie zwei gute Stunden: eine im Hochzeitsbett, die andere dann im Tod“

Titelseite von “Carmen”, Roman von Prosper Mérimée

Das ist frauenfeindlich und dafür dürfen wir eine Entschuldigung von Herrn Palladas erwarten — aber nicht dafür Carmen «canceln». Darum geht es ja nicht — man muss es nur erwähnen und weitermachen. Wokeness ist gratis. Beziehungsweise müssen andere Menschen die anfallenden Kosten tragen.

Auch Nietzsche wurde in der Einleitung erwähnt. Zu Recht. Er schrieb in einem Brief an Heinrich Köselitz im Mai 1888, «Und wirklich schien ich mir jedes Mal, dass ich Carmen hörte, mehr Philosoph, ein besserer Philosoph, als ich sonst mir scheine: so langmüthig geworden, so glücklich, so indisch, so sesshaft…». Nietzsche schreibt zum Glück von hören — denn er hätte die gesehene Handlung auf der gestrigen Bühne nicht wiedererkannt, auch wenn die Musizierende großartige Arbeit geleistet haben.

Im Juni 1942, so schrieb der Vorsitzende des Judenrates des Warschauer Ghettos in seinem Tagebuch, hatte man Carmen als eine von drei möglichen Optionen überlegt. Auch Adam Czerniaków und seine Leidensgenossen hätten die Stuttgarter Carmen nicht erkannt.

Ausschnitt vom Tagebuch, Adam Czerniaków, Warschauer Ghetto, 1942

Frage 1: Ist diese vermutende Nicht-Wiedererkennung als Carmen schlimm?

Kunst muss doch aktuell bleiben. Ein Theaterstück heutzutage ohne Video ist überhaupt nicht denkbar. Viele finden Körpergeräusche, Fäkalhumor, und Gesichtsverzerrungen lustig. Jeder darf in der Kunst alles — spätestens nach Joseph Beuys wissen wir das [5]. Jedes Stück kann auch mit mehr Bananen inszeniert werden. Keiner darf behaupten, die Version mit Bananen sei nicht Kunst.

Antwort: Nein, es ist nicht fragwürdig, ein Stück ganz anders zu gestalten. Aber es wäre seitens der Staatsoper freundlicher und weniger juristisch bedenklich, wenn sie die Vorstellung nicht als Carmen, sondern als Nach Carmen vermarkten würden.

Oder als Hommage an Nietzsche und angesichts der Tatsache, dass Carmen wohl wüsste, worum es am Ende mit José ging («Non, je sais bien que c’est l’heure, je sais bien que tu me tueras.» / «Nein, ich weiss wohl, das ist der Zeitpunkt, ich weiss wohl, dass du mich töten wirst.» [6]):

Amor Fati : ein Gesamtkunstwerk nach Carmen.

Amor Fati, Nietzsche

Frage 2: Inwiefern war die Inszenierung anders als was man von Carmen kennt?

Es gab zwei markante Innovationen auf der Bühne: einen Mann in einem grünen Ganzkörperanzug, der sich abwechselnd gewalttätig und komisch benimmt, sowie einen Schwarz-Weiß-Fernseher, welcher stets ein Auge zeigt.

Die zwei waren aber nicht störend, sondern höchstinteressant. Aber es gab noch viele weitere Abweichungen vom Libretto, die es herausfordernd gemacht haben, die Handlung zu verstehen.

Micaëla betritt die Bühne. Sie hat eine Art Uniform an — die später sich als die Uniform der Zigarettenfabrikarbeiterinnen herausstellt, auch wenn sie zu denen nicht gehört. Micaëla soll Moralés ansprechen und tut dies — jedoch die beiden schauen sich währenddessen nicht gegenseitig an. Nicht nur das ist für das Publikum anspruchsvoll, sondern auch die Tatsache, dass Micaëla überhaupt nicht schüchtern wirkt und küsst Don José, ohne zu zögern. Ob der Regisseur zweimal Carmen auf der Bühne haben wollte?

Die Handlung fängt in einem Zimmer an, welches nicht unbedingt Spanien darstellt. Eine Carmen ohne lebendigen Platz? Es findet keine Wachablösung statt. Die jubelnde Horde von Gassenkinder fällt aus — es sind nur Mädchen, alle in einem eleganten Abendkleid angezogen. Wieder eine Uniform — also wieder eine futuristische Idee. (Die Soldaten hingegen, die eine Uniform tragen sollten, haben alle weiße Unterhemden an — und sehen dabei dementsprechend nicht besonders militärisch aus. Das ist gegebenenfalls gut so, denn wir wollen auch nicht das Militär verherrlichen)

Jetzt zu der Carmen-José Beziehung. Bereits vom Anfang an scheint José an ihr interessiert zu sein — daher findet keine Verwandlung statt. Dabei spart man Zeit — unsere moderne Gesellschaft verdient ja ein höheres Tempo. Carmen wurde verhaftet und entkommt. Aber die Konsequenzen für Don José sind nicht dargestellt. Liebe scheint kein Opfer zu verlangen — schön, aber ungewöhnlich für eine Carmen.

Eine weitere Neuigkeit: Es gibt keine Taverne von Lillas Pastia. Dabei hat man die Verherrlichung vom Alkoholkonsum vermieden. Wenn Carmen singt, «Bel officier, bel officier», sie spricht Don José an — anstatt, wie im Libretto, Zuniga. Ob der Regisseur auch zweimal José auf der Bühne haben wollte?

Eine Interpretation einer Momentaufnahme in der Pause, Staatsoper Stuttgart

Antwort: Die Inszenierung hat schöne Bilder — auch dank des Mannes im Ganzkörperanzug sowie der Clowns mit übertriebenen falschen roten Nasen — aber die Handlung hat andere Nuancen gehabt als im Libretto. Als Performance Art war diese Interpretation von Carmen hervorragend.

Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt dieses Gesamtkunstwerkes. Der Autor, der sich mit großer Begeisterung für Carmen den Weg nach Stuttgart gemacht hat, verließ während der Pause den Saal. Deshalb beziehen sich all diese Gedanken nur auf einen Teil des Abends.

Noch vor der Pause hat der Autor angefangen Notizen zu machen. Er saß natürlich im Dunkeln und kritzelte auf seine eigenen Hände, da er kein Papier hatte. Die Idee war, anschließend einen detaillierten Bericht über alle Besonderheiten zu erstellen. Als er in den Herbstabend hinaustrat und einen Blick auf seine Hände warf, stellte er fest, dass es leider unmöglich war, die Notizen zu entziffern.

Hand mit Graffiti, im Dunkeln während “Carmen” geschrieben

Auch diese Hand mit Graffiti ist Teil des Gesamtkunstwerkes. Vielen Dank an den Regisseur für diese Gelegenheit, bei Carmen mitwirken zu dürfen.

Referenzen

[0] “Carmen”, “von” Georges Bizet (Anführungszeichen nicht im Original), Staatsoper Stuttgart

https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/bizet-carmen/

[1] Das Triadische Ballett, Staatsgalerie Stuttgart

https://www.staatsgalerie.de/de/sammlung-digital/triadische-ballett?

[2] Hamlet, vierter Aufzug, zehnte Scene

https://www.projekt-gutenberg.org/shakespr/hamlet-w/chap04.html

[3] Schuld und Sühne, Fjodor Dostojewski

https://www.projekt-gutenberg.org/dostojew/schuldsu/schuldsu.html

[4] “Carmen, nouvelle de Prosper Mérimée” sowie “Liste griechischer Phrasen/Pi”

https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Carmen_(nouvelle)

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Liste_griechischer_Phrasen/Pi#Πᾶσα_γυνὴ_χόλος_ἐστίν·

[5] Beuys 2021: “Jeder Mensch ein Künstler”, DW

https://amp.dw.com/de/beuys-2021-jeder-mensch-ist-ein-künstler/a-57018264

[6] Libretto: Carmen

https://opera-guide.ch/operas/carmen/libretto/de/

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