Der Vorfall im Aufzug: Oder wie man konservativer wird

Karn Kant
4 min readFeb 9, 2024

Der Erzähler hat sich verschlafen. Daher rannte er ohne Kaffee und sogar ohne das Bett zu machen auf den Zug. Pünktlichkeit ist alles.

Mit einem Buch in der Hand betritt er das Toni Areal. Freundliche Begegnung mit dem Personal des Cafés.

Kafi

„Sali“

„Hoi“

„Was häsch du gärn?“

„Espresso, gärn“

Das kostbare Getränk ist um 20 Rappen teurer geworden. Es handelt sich um die Rohstoffteuerung. Die grosse Preisliste an der Wand ist noch nicht aktuell.

„Aber vielen Dank, dass Sie es extra erwähnen“

„Selbstverständlich“

Wie süss ist es, einander ehrlich anzulächeln.

Beim Aufzug wartet eine Dame. Er stellt sich nebenan. Als sich die Türen öffnen, sieht man drinnen zwei Frauen am Reden. Die Dame geht rein und wählt ihre Etage. Er merkt, dass sein Stockwerk bereits leuchtet. Sie drückt zweimal den Knopf mit dem „Türe schliessen“ Symbol.

Der Aufzug hält im vierten Stock. Die Dame geht hinaus und blickt erwartungsvoll zurück. Keiner bewegt sich. Sie zeigt ihre Irritation mit einem seltsamen Geräusch und kommt wieder rein.

Hinten reden die Frauen weiter.

„Magda war so anstrengend. Ich habe danach Yoga gemacht. Das hat so geholfen“

„Ach, Yoga hilft wirklich. Ich merke auch, dass wenn ich grumpy bin, hilft Yoga den ganzen Stress wegzuwischen“

Er starrt weiterhin die Seitenwand an. Frauen rechts, Dame links.

Die Frauen gehen am fünften raus. Kurz danach dreht sich die Dame und fragt ihn lächelnd auf nicht akzentfreies Englisch: „You have to go to the seventh floor?“ [Sie müssen zum siebten Stock?]

Er schaut sie zurück an und antwortet langsam, „In. Der. Tat.“

Schweigen.

Man hätte natürlich die Frage einfach und freundlich beantworten können. Aber können ist anders als müssen oder sollen.

Ecco la sua difesa. Oder was gegebenenfalls schnell durch seinen Kopf gegangen ist.

Man braucht allgemein überhaupt kein Gespräch mit fremden Menschen in einem Aufzug zu führen. Wenn man es aber tut, dann gewöhnlich in der ortsüblichen Sprache: Deutsch, in diesem Fall, oder im lokalen Dialekt. Es stehen auch weitere Landessprachen zur Verfügung. Aber nein, sie wählte eine Fremdsprache. Und trifft dabei die Annahme, dass der Mann jene Fremdsprache versteht.

Es mag sein, dass die Dame kein Deutsch spricht — und auch kein Französisch oder Italienisch. Man hat aber typischerweise leichten Zugang zu einer Übersetzungs-App. Oder man lauft mit einem Sprachführer herum. Beides kostet Energie und Zeit. Sie darf gerne die Kosten ihrer Ignoranz tragen. Wieso muss der unschuldige Mitfahrer es tun?

Oder halt: Sie glaubt, dass der Mann kein Deutsch spricht. Seine Hautfarbe kann als nicht ganz ortsüblich bezeichnet werden. Ob man solche menschenähnlichen Wesen anders behandeln soll — aber das ist nicht mehr ganz salonfähig. Daher lieber so tun, als ob solche Wesen „normal“ sind — auch wenn sie eventuell weder Kafka noch Kuby gelesen haben.

(Ein solcher Glaube wäre nicht besonders modern: „Es ist aber ein kaum fasslicher Denkfehler, zu glauben, dass, sagen wir, aus einem Neg** oder einem Chinesen ein Germane wird, weil er Deutsch lernt und bereit ist, künftighin die deutsche Sprache zu sprechen“ — A. Hitler, Mein Kampf, Band II, Kapitel 2)

Dazu kommt: Es gab weder ein übliches Grusswort noch eine kurze Entschuldigung — sondern sofort zur Sache.

Sogar die „Sache“ ist fragwürdig. Es geht doch ihr nichts an, wohin der Mann will. Er schuldet ihr keine Rechenschaft.

Zum Schluss: Wieso „You have to go“ [Sie müssen] und nicht „Do you wish“ [Wollen Sie] oder „Are you going“ [Gehen Sie]? Der freie Mann muss nirgendwo hin — er möchte aber gerne.

Daher seine Antwort — ohne Lächeln und auf Deutsch geliefert. Ein kleiner Protest gegen Unfreundlichkeit und Arroganz. Auch wenn jene Dame ihr fragwürdiges Verhalten nicht ändern mag. Car il faut quand même résister.

Beim Verlassen des Aufzugs sagt sie mit von ihm abgewandtem Gesicht: „I wish you a very nice day“. [Ich wünsche Ihnen einen sehr schönen Tag]

Toni

Es war kein Gespräch mehr, denn das beinhaltet den Wünsch, einander anzusehen. Die verlegene Antwort des Mannes: „I am sure I appreciate it“ [Ich weiss es zu schätzen].

Ob man neben „Rauchen nicht gestattet“ auch „Unfreundlichkeit unerwünscht“ oder „Nur zu Hause darf man respektlos sein“ aufhängen soll?

Oder aber auch: „Sei toleranter: Der Andere kämpft sich durch einen harten Tag“

Diese letztere schreibt der Mann für sich selbst auf. Konservativer darf man werden — unfreundlich niemals.

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Karn Kant

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