Italien ist nicht nur Sonne

Karn Kant
3 min readJul 18, 2023

Nachdem ich den Laptop im Rucksack verstaut hatte, räumte ich die Plastikflaschen von meinem Schreibtisch im neapolitanischen Co-Working-Space weg und machte mich schweissgebadet auf den Weg zum Ausgang.

An der Rezeption sagte ich fröhlich: “Ciao! Grazie”, zu den beiden Damen. Ich wusste, dass ich mich abmelden musste. Die Dame im blauen Kleid holte die Namensliste heraus. Die dunkelhaarige Dame schaute mich wohlwollend an.

Nachdem ich die Zeit unter meinem Namen notiert hatte, wollte ich meine Hand zum Abschied heben, als Blau sagte: “Sie müssen diesen Code an der Wand scannen und das Feedback-Formular ausfüllen”.

“Sicher”, antwortete ich und holte mein Handy heraus, fest entschlossen, später nichts zu tun.

Es kann kein Glück geben, wenn die Dinge, an die wir glauben, sich von den Dingen unterscheiden, die wir tun.

Als ich lächelte und mich abwenden wollte, sagte Blau: “Sie müssen es hier machen. Wir können Sie nicht gehen lassen, bevor Sie das Formular ausgefüllt haben”.

Wie hatten Dunkel und Blau vor, mich aufzuhalten? Sie waren beide in einer sitzenden Position und die Tür war weniger als einen Meter rechts von mir. Hatten sie Pistolen in ihren Strumpfbändern? Warum trugen sie Strumpfbänder? Es war heiss. Ich empfand die Drohung als absurd.

“Für das Formular brauche ich ein Google-Konto — und ich habe keins”, protestierte ich gereizt und verlogen. Das müsste doch gehen, dachte ich.

Signora Dunkel war verblüfft. Dies schien eine neue Situation zu sein. “Versuchen Sie es noch einmal. Es sollte funktionieren”, schlug sie mit dem Optimismus der sonnenverwöhnten Länder vor.

Das has natürlich nichts gebracht. Blau mischte sich ein: “Was sollen wir jetzt tun? Ohne das Formular…”, sie liess die Schrecken der Nichteinhaltung ungesagt.

Nun sagte Dunkel: “Ah, wir haben auch ein Formular auf Papier”.

Blau rief: “Nein!”

Dunkel konterte triumphierend: “Doch”, und kramte einen Ordner aus einer Schublade unter dem weissen Schreibtisch hervor.

Ist das euer ernst, dachte ich mir, als ich das Stück Papier hochhielt. Aber man legt sich nicht leicht mit der Göttin der Bürokratie an. Ich beugte mich vor und begann es auszufüllen, wobei ich meine Antworten auf die Fragen laut aussprach. Ich hatte ja Zuschauerinnen.

“1. Wie haben Sie uns gefunden? — Google”

“2. Service an der Rezeption? — Ausgezeichnet”. Daraufhin machten sowohl Blau als auch Dunkel “Aaaaah” vor Freude.

“5. Wie lange sind Sie geblieben? — Ungefähr vier Stunden”.

“Ihr Italienisch ist sehr gut”, warf Blau ein.

“Danke”, sagte ich fröhlich. “Ich habe mit der Pandemie angefangen”.

“Sind Sie das erste Mal in Neapel?”, fragte Dunkel.

“Ja. Nein. Ich war schon vor sieben Jahren hier”

“Gefällt es dir?”, fragten sie gemeinsam. Wir waren uns offenbar nicht mehr fremd.

“Ja! Aber es ist zu heiss”

“Ja, sogar für uns”, nickte Dunkel verständnisvoll.

“10. Vorschläge zur Verbesserung? — Klimaanlage!”

“Ja, ja, wir arbeiten daran”, antwortete Blau.

Ich reichte das Formular zurück, wiederholte meinen Dank und fügte hinzu: “Einen schönen Tag”.

“Dir auch”, strahlten sie köstlich, während Blau mir die leeren Wasserflaschen abnahm — ein letzter Akt der Freundlichkeit.

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Karn Kant

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